Mit dem e-Delivery geht im brasilianischen Werk Resende der erste elektrisch betriebene Verteiler-Lkw Südamerikas in Serie. Volkswagen Caminhões e Ônibus baut in einer weltweit einzigartigen Initiative ein neues e-Mobility-Team und ein ganzes Ökosystem rund um den e-Delivery auf. Basis ist das e-Consórcio: Ein Verbund von Produktionspartnern und Zulieferern, der die Kunden während des gesamten Lebenszyklus des Elektrofahrzeugs unterstützt.
Zu Jahresbeginn 2018 übernahm Argel Franceschini, verantwortlich für die Abteilung Bus Engineering bei Volkswagen Caminhões e Ônibus (VWCO), eine ganz besondere Aufgabe. Er wurde als technischer Projektleiter damit betraut, den Prototypen des e-Delivery in die Serienproduktion zu überführen. Mit dem Prototypen-Lkw hatte VWCO zuvor das Potenzial von Elektrofahrzeugen bei Kunden in Brasilien erprobt. Und da es sich bei dem vollelektrischen, leichten e-Delivery um den ersten seiner Art handelte, musste Franceschini mit seinem interdisziplinären Team eine neue Produktionslinie für batterieelektrische Fahrzeuge in die bestehenden Strukturen des brasilianischen VWCO-Werks in Resende integrieren. Eine herausfordernde Aufgabe, da zeitgleich sowohl ein technisches Konzept als auch ein Plan zur Umstellung der Fertigung erarbeitet werden mussten.
Schnell wurde Franceschini klar, dass er zur Bewältigung dieses Vorhabens sein Team erweitern musste. „Die meisten Kompetenzen, die wir für dieses Projekt benötigten, waren in der klassischen Nutzfahrzeugindustrie nicht zu finden. Deswegen stellten wir junge Menschen ein, die sich mit digitalen Technologien auskannten und denen wir zutrauten, dass sie mit ihrem Wissen den e-Delivery zur Serienreife bringen können“, erzählt der 37-Jährige.
Inzwischen ist der neue e-Delivery auf dem Markt. Mit dem Verteiler-Lkw machen VWCO und die TRATON GROUP einen wichtigen Schritt in ihrer Strategie zur Elektrifizierung von Lkw und Bussen in den kommenden Jahren. Denn der e-Delivery deckt eine breite Produktpalette im Segment der leichten Lkw ab, ist als wichtige Plattform innerhalb der TRATON GROUP positioniert und ergänzt auf ideale Weise das Portfolio mit anderen Marken wie Scania, MAN und Navistar.
Agile Software-Entwicklung
Ana Fachardo kam als Ingenieurin für Elektrotechnik ins e-Mobility-Team von VWCO. Seit 2019 ist die 26-Jährige für die Entwicklung, Integration und Validierung des Steuergeräts des vollelektrischen Fahrzeugs verantwortlich. Diese in Zusammenarbeit mit Bosch entwickelte Hardware ist das Gedächtnis und das Gehirn des Fahrzeugs. Es erfasst zahlreiche Fahrzeugdaten und ermöglicht so zum Beispiel die Rückverfolgung von möglichen Fehlern in der Produktion. Außerdem vernetzt das Steuergerät die vielen verschiedenen Komponenten des Elektro-Lkw miteinander. Allein in Ana Fachardos Team arbeiten 20 VWCO-Spezialisten an Steuerungen für neue Elektro-Bauteile wie der Traktionsbatterie oder dem elektrischen Antriebsstrang. Gleichzeitig arbeiten mehr als 50 weitere Ingenieure an Lkw-Systemen wie Kabine, Fahrwerk, Achsen oder Aufhängungen. Gemeinsam mit zahlreichen Partnern hat Fachardo die komplexe, dem Steuergerät zugrundeliegende Software während der Erprobung des e-Delivery immer wieder modifiziert und weiter optimiert – teilweise sogar direkt auf der Teststrecke.
400.000Kilometer begleiteten Ingenieure von Volkswagen Caminhões e Ônibus den Prototypen des e-Delivery im Testbetrieb.
Während der Pilotkunde Ambev, eine brasilianische Brauerei, den ersten Prototypen im realen Einsatz testete, überwachte Fachardo die Software und Steuerung des emissionsfreien e-Delivery und prüfte sie bei Tests auf mehr als 400.000 Kilometern auf Herz und Nieren. Und selbst als die Produktion im Werk Resende während der COVID-19-Pandemie vorübergehend stillstand, hielt das Team die Tests am Laufen. „Wir nehmen vor Ort auf unserem Testgelände ständig Anpassungen vor“, berichtet Fachardo. Ihr Kollege Franceschini ergänzt: „Die Produktion von Elektrofahrzeugen stellt uns vor ganz neue Herausforderungen. Ein Beispiel ist die Batterietechnologie: Weil sich die Batterien ständig weiterentwickeln, müssen wir unsere Produktentwicklung und den Produktionsprozess noch flexibler gestalten.“
Umstellung der Produktion auf E-Lkw
Das VWCO-Team konzipierte den e-Delivery so, dass er in die bestehenden Produktionslinien im Werk Resende integriert werden konnte. Das sparte wertvolle Zeit und minderte Risiken – zumal VWCO in Resende neben dem konventionellen Delivery noch rund 350 weitere Modellvarianten fertigt. Die Integration gelang im laufenden Betrieb, weil wichtige Partner im Werk sehr eng zusammenarbeiten und für ihre eigenen Produktionsbereiche verantwortlich sind. „Wir haben schon immer in einem Produktionssystem gearbeitet, das sich Consórcio Modular nennt – also im engen Verbund mit unseren Partnern. Man kann sich das wie mehrere kleine Fabriken in einer größeren Anlage vorstellen“, beschreibt Franceschini.
Die völlig neue, modulare Architektur des Fahrzeugs erlaubte einen intelligenten Produktionsaufbau, der wiederum eine effiziente Umstellung der Prozesse ermöglichte. So wird beispielsweise der Elektromotor des e-Delivery als kompakte Einheit installiert, die weitaus weniger Bauteilmodifikationen erfordert als ein Dieselmotor, dessen zahlreiche Komponenten direkt auf der Montagelinie des Antriebsstrangs montiert werden. Um die Kapazität dort optimal auszunutzen, werden beim e-Delivery im gleichen Taktabschnitt zusätzlich die Steuergeräte, die Klimaanlage oder spezielle Pumpen unter der Kabine montiert. Der Produktionsprozess läuft genauso reibungslos ab wie bei konventionellen Lkw-Modellen und wird gleichzeitig effizienter.
Batteriemontage vor Ort
Die Zellen für die Traktionsbatterien sind speziell auf den e-Delivery zugeschnitten und werden von CATL produziert, einem der größten Zelllieferanten weltweit mit Sitz in China. „Die Batteriespezifikation, die Softwareintegration, die Entwicklungstests und die Validierung waren große Herausforderungen für die Ingenieurteams von VWCO und CATL. Sie haben in den letzten drei Jahren eng zusammengearbeitet, um die beste Lösung in Bezug auf Leistung, Effizienz und Sicherheit zu erarbeiten“, berichtet Franceschini.
Eine Neuheit im Werk ist die spezielle Halle für den Hochvoltbereich, die am Ende des Montagebands steht. Im sogenannten e-Shop montiert Batteriehersteller Moura die Traktionsbatterien des Fahrzeugs, die der Zulieferer aus dem e-Consórcio zuvor in seinem Stammwerk im 2.400 Kilometer nördlich gelegenen Pernambuco aus den von CATL zugelieferten Zellen fertigt.
„Es ist immer wieder ein magischer Moment, wenn der e-Delivery mit der Batterie ‚energiesiert‘ wird.“FERNANDO CASTELÃO
Direktor Lithiumbatterien bei Moura
Verantwortlich für Batteriemontage, After Sales und Recyclingprozess ist der 45-jährige Fernando Castelão, der bei Moura das Geschäft mit Lithiumbatterien leitet. „Die Ausstattung des e-Delivery ist eine große Umstellung für uns“, sagt Castelão. Im Auto mit Verbrennungsmotor sei die Batterie vor allem für den Start zuständig. Im E-Lkw wird sie zur zentralen Komponente des Antriebsstrangs. Es sei immer wieder ein magischer Moment, wenn der fast fertige e-Delivery im e-Shop mit der Batterie „energiesiert“ werde, wie er das nennt. Sieben Facharbeiter sind für diese Energiesierung nötig, ebenso viele Ingenieure und Chemiker sind im Moura-Stammwerk für die Vormontage zuständig.
Weitreichende Zusammenarbeit im e-Consórcio
Das gesamte Ökosystem rund um den e-Delivery geht weit über den Herstellungsprozess mit den Partnern hinaus und unterscheidet sich in diesem Punkt deutlich vom bisherigen Consórcio Modular. Um die Einführung von Elektrofahrzeugen in der Logistikbranche zu fördern, umfasst das Konsortium auch Unternehmen wie Siemens und ABB, die die Ladestationen bei den Flottenbetreibern installieren oder Partnerfirmen wie GD Solar, die nachhaltige Stromquellen erschließen – etwa durch Solarenergie auf den Fabrikdächern der Kunden. Franceschini unterstreicht: „Es ist entscheidend, dass wir ein komplettes Ökosystem für unsere Kunden anbieten, das Produkt, Infrastruktur, Energie, Flottenmanagement, Wartung, Recycling und Finanzdienstleistungen umfasst. Das ist der Kern des e-Consórcio-Konzepts.“
Modulare Plattform und Tests für E-Lkw
Volkswagen Caminhões e Ônibus (VWCO) hat eine neue modulare Architektur entwickelt, die als Basis für die Elektro-Lkw des Unternehmens dienen soll. Sie schafft mehr Flexibilität und ermöglicht es, zahlreiche Fahrzeugvarianten von der e-Delivery-Basisplattform abzuleiten. Diese Plattform ist in vier Module unterteilt: Fahrerhaus und Zusatzsysteme, Batterien, Aufhängung und Antriebsstrang. VWCO kann problemlos Komponenten innerhalb eines Moduls austauschen, ohne dass die anderen Module davon betroffen sind. Der Lkw wird um die Batterien herum entwickelt, um die Kapazitäten für eine höhere Reichweite und Effizienz einzusetzen und eine hohe Flexibilität im Entwicklungsprozess zu erhalten. Darüber hinaus entwickelte das e-Mobility-Ingenieursteam eine ganze Reihe neuer Tests, um den Elektro-Lkw umfassend zu testen und seine Zuverlässigkeit und Betriebssicherheit auch in den anspruchsvollsten Einsatzbereichen zu gewährleisten.
Franceschini merkt auch an, dass für die Kunden alles völlig neu ist im Vergleich zu den gewohnten, konventionellen Diesel-Lkw. Deshalb ist es Aufgabe seines Teams, nicht nur den Elektro-Lkw zu entwickeln, sondern auch das technische Know-how bei VWCO aufzubauen und die Kundenbetreuung und -erfahrung zu verbessern. „Die Lernkurve ist immer noch steil, und unsere Aufgabe ist es, unser Wissen mit allen beteiligten Abteilungen, Partnern und Kunden zu teilen“, sagt Franceschini. „Unsere Fahrzeuge liefern uns wachsende Datenschätze aus dem täglichen Betrieb, die wir als Grundlage für weitere Entwicklungen nutzen. Dabei konzentrieren wir uns immer darauf, das beste Kundenerlebnis zu bieten.“