Herr Stibbe, die Geschichte von MAN ist auch eine Geschichte von Fusionen. Das Unternehmen entstand überhaupt erst vor rund 120 Jahren, weil sich zwei Firmen zur damaligen M.A.N. vereinten. Sind Fusionen aus historischer Sicht ein notwendiger Katalysator für nachhaltigen Unternehmenserfolg?
Fusionen sind auf jeden Fall ein Motor, der Entwicklungen beschleunigt. Mit der Fusion von 1898 bündelten die Maschinenfabrik Augsburg und die Maschinenbau-Actiengesellschaft Nürnberg ihre Kompetenz und wirtschaftliche Potenz. Es entstand ein führendes Maschinenbauunternehmen in Deutschland. Seitdem ist die Firmengeschichte von MAN geprägt durch Kooperationen und Fusionen.
Können Sie ein weiteres Beispiel nennen?
Man denke an die Partnerschaft mit der Renault-Tochter Saviem in den 1960er Jahren. Diese Kooperation brachte beiden Unternehmen Vorteile. MAN übernahm einen Kleintransporter von Saviem und vertrieb diesen in Deutschland – MAN hatte bis dahin keinen kleinen Lkw. Über Saviem kam zudem das F7-Fahrerhaus zu MAN, eine Frontlenker-Kabine, die es bis dahin nicht gab bei MAN. Das war richtungsweisend und begründete für MAN letztlich die moderne Fahrzeugära. Die Franzosen im Gegenzug erhielten von MAN Zugang zu innovativen Motorentechnologien. MAN und Saviem, das war ein Austausch von Technologien auf Augenhöhe.
Kennzeichnet „Augenhöhe“ eine gute Fusion?
Auf jeden Fall. MAN hat zum Beispiel bei einer Kooperation mit Volkswagen Ende der 1980er Jahre einen Großteil der Produktion der G90-Lkw-Produktlinie federführend übernommen. Im Gegenzug profitierte man vom großen Vertriebsnetz von Volkswagen. Auch das sind wichtige Aspekte einer Fusion: Nicht nur der Austausch von Technologie-Knowhow, auch die Netzabdeckung, die tiefere Erschließung von Märkten. Das war für MAN wie für Volkswagen eine Win-Win-Situation.
Wichtig scheint auch das „Wie“ bei einer Fusion zu sein. Die beiden Manager, die 1898 die Vereinigung von zwei Maschinenfabriken zur M.A.N. vorantrieben, gingen äußerst formvollendet und respektvoll miteinander um. Sie haben die Briefe gelesen, die damals hin- und hergingen. Was hat Sie daran fasziniert?
Die beiden Unternehmens-Chefs Anton von Rieppel und Heinrich von Buz sprachen von Anfang an in den Verhandlungen sehr offen und vertrauensvoll miteinander. Dabei hatten beide natürlich stets das Wohlergehen ihres eigenen Unternehmens im Auge. Sie agierten sehr selbständig, ohne vorher den Aufsichtsrat oder Vorstände informiert zu haben. Das war mutig. Sie schrieben sich formvollendete Briefe in heute fast altbacken klingenden Konjunktiv-Sätzen. Ein Zeugnis großer Wertschätzung, eines Respekts auf, wie gesagt, Augenhöhe. Dabei waren sie stets sehr konkret.
Was meinen Sie mit „konkret“?
Na, da wurde konkret eine umfassende Fusion geplant. Entscheidend war dabei, und das zeichnet gute Fusionen bis heute aus: Man gewährte sich gegenseitig viele unternehmerische Freiheiten. Dass man eben aus Augsburg heraus nicht zu viel in die Geschäfte in Nürnberg eingriff, und umgekehrt. Beide hatten auch nach der Fusion ein relativ unabhängiges Produktportfolio. Dazu kommt eins: 1898, zum Zeitpunkt der Fusion, hatte Rudolf Diesel seine neue Motorentechnologie in Augsburg zur Serienreife gebracht, und Heinrich von Buz hatte ihn dabei mit einem Team an Ingenieuren unterstützt. Nach der Fusion teilte man sein Know-how und so hielt also die Dieseltechnologie Einzug ins gesamte Unternehmen - ein bedeutender Technologietransfer.
Die höflichen Verhandlungen per Brief mögen beispielhaft für eine gelungene Fusion sein, sind aber sicher nicht eins-zu-eins auf heutige Verhältnisse zu übertragen. Da werden externe Beratungsfirmen bemüht.
Der Zusammenschluss von Konzernen ist heute eine deutlich komplexere Angelegenheit, für die externe Hilfe sicherlich unumgänglich ist, ganz klar. Dazu übten Vorstände oder Geschäftsführer früher ihren Job fast ein Leben lang aus. Heute sind Top-Manager vielleicht fünf Jahre in ihrer Position, bevor sie zu einem anderen Unternehmen wechseln. Das bewerte ich gar nicht, es ist einfach eine andere Zeit. Dennoch, der persönliche Umgang auf höchsten Ebenen ist bei einer anstehenden Fusion oder Kooperation noch immer sehr wichtig. Bei der Gründung der Nutzfahrzeugsparte von MAN zum Beispiel kam es 1915 zu einem Joint Venture mit dem Schweizer Hersteller Saurer. Und auch hier pflegten die beteiligten Verantwortlichen einen direkten Draht zueinander mit enormem persönlichem Engagement.
Wie sah das aus?
Man traf sich persönlich, legte die Buchhaltung offen, besuchte gemeinsam die Produktionswerke, sprach mit Arbeitern und zeigte einfach über den gesamten Transformationsprozess eine ungemeine Transparenz, um eine möglichst harmonische, zielgerichtete Zusammenarbeit beider Unternehmen zu erwirken.
Die unternehmerischen Herausforderungen heute sind deutlich differenzierter, Stichworte E-Mobilität, autonomes Fahren, Digitalisierung. Sind Fusionen ein unbedingtes Mittel zum Erfolg, was meint der Historiker?
Als Historiker möchte ich mir keine Fachkenntnis über heutige Unternehmensphilosophien anmaßen. Grundsätzlich aber kann ich sagen, das Credo lautet heute wie damals: Erfolg durch Wandel. Das hat die MAN mehrfach durchlebt und gestaltet. Nehmen wir nur das Jahr 1985. Da war das Unternehmen ein sehr breit aufgestellter Konzern, man baute Brücken, Bohrplattformen, Schwimmkräne, Züge, sogar Schlüsseltechnologien für die Weltraumrakete Ariane. Und natürlich Nutzfahrzeuge. Das war ein unfassbar breites Produktportfolio. Man konnte aber nicht in allen Bereichen mit der technologischen Entwicklung Schritt halten. Auf dieser Basis kam es zu Fokussierungen, zum Outsourcing und zu Kooperationen in Spezialbereichen, um das notwendige Investment in Knowhow und Innovationen zu stemmen.
MAN fand schließlich selbst eine neue Heimat unter dem Dach der TRATON Group. Wie werden Historiker später über diese Partnerschaft urteilen?
Ich kann leider nicht in die Zukunft schauen… Klar ist aber, dass MAN durch den Zusammenschluss in der TRATON Group von zahlreichen Synergien im Konzernverbund profitiert, seien sie technologischer, finanzieller oder strategischer Art. Im Gegenzug leistet MAN natürlich seinen unterstützenden und z. T. auch federführenden Beitrag im Verbund, zum Beispiel bei der Einführung der schweren Lkw-Reihe in Brasilien für den Partner VWCO oder auch bei der Entwicklung und Produktion von Motoren und Komponenten für intelligente Partnerschaften.
Sie haben seinerzeit die Festschrift zum 100. Geburtstag von MAN Truck and Bus mitverfasst. Schreiben Sie schon an neuen Kapiteln?
Das Schöne an der Dokumentation von unternehmerischen Meilensteinen ist ja, dass heute morgen schon gestern ist. Ich sage immer, wer die Zukunft gestalten will, muss sich erinnern können. Dafür ist das Firmenarchiv eine wertvolle Quelle des Wissens. Wir dokumentieren aufmerksam die Entwicklungen des Unternehmens, damit auch zukünftige Generationen die derzeitige spannende Neuausrichtung auf digitale Geschäftsmodelle und auf eine vernetzte, emissionsfreie Mobilität als gesamthafte Transportlösungen gut nachvollziehen können.