„Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit können und müssen Hand in Hand gehen“ – Christian Levin
In Zeiten von geopolitischen Turbulenzen und wachsendem Wettbewerb blickt Christian Levin auf seine ersten 100 Tage als Vorsitzender des ACEA Commercial Vehicles Board zurück. Hier erklärt er, warum die strategische Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Politikern wichtiger ist, denn je.
Herzlichen Glückwunsch zu Ihren ersten 100 Tagen als Vorsitzender des ACEA Commercial Vehicles Board im Jahr 2025. Was beinhaltet Ihre Rolle – und warum ist es für TRATON wichtig, sich mit einer starken Stimme in politischen Diskussionen einzubringen?
Ich danke Ihnen. Meine Aufgabe besteht darin, unsere Branche in Europa zu vertreten und sicherzustellen, dass die politischen Entscheidungsträger verstehen, was für die erfolgreiche Transformation hin zu nachhaltigem Transport erforderlich ist. Das bedeutet, dass ich mich für eine pragmatische und ehrgeizige Politik einsetze, die gleichzeitig fortschrittlich und realistisch ist.
Lkw und Busse sind nicht nur große Autos, sie sind das Rückgrat einer funktionierenden Gesellschaft und Wirtschaft. Wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen, benötigen wir Regeln, die Investitionen und Innovationen fördern.
Die Elektrifizierung genießt höchste Priorität und wir investieren viel, um diesen Wandel voranzutreiben. Doch der Zeitplan muss realistisch sein. Daher brauchen wir eine intelligente und praxisnahe Politik, die sicherstellt, dass Europa seinen Vorsprung behält – vor allem jetzt, da die Konkurrenz aus China stärker wird. Wir brauchen einen Rahmen, der sicherstellt, dass Dekarbonisierung und industrielle Führung Hand in Hand gehen. Europa kann es sich nicht leisten, hier zurückzufallen.
Welche regulatorischen Änderungen sind für die Dekarbonisierung des Schwerlastverkehrs am dringlichsten?
Heute sind nur 2 % der neuen Lkw in der EU emissionsfrei. Bis 2030 muss dieser Anteil auf 35 % ansteigen, um die Ziele zur CO2-Reduktion zu erreichen. Das ist ein riesiger Sprung innerhalb nur weniger Jahre. Wir tun alles, um diese Ziele zu erreichen. Gleichzeitig erwarten wir von der Politik, dass sie ihren Teil der Abmachung einhält.
Wir fordern, dass die CO2-Normen früher, also bereits vor 2027, überprüft werden, damit wir den Fokus auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen und des Ökosystems für emissionsfreie Fahrzeuge legen können. Der Ausbau der Infrastruktur, die Energiepreise sowie wirtschaftliche Faktoren liegen außerhalb des Einflussbereichs der Hersteller. Ein starres Sanktionssystem könnte sie dennoch bestrafen. Die Regulierung muss die realen Herausforderungen widerspiegeln.
Über die Emissionsziele hinaus braucht es einen Rechtsrahmen, der Komplexität beseitigt und Investitionen fördert. Sich überschneidende, manchmal widersprüchliche Vorschriften bremsen uns aus und binden unnötig Ressourcen, die wir dringend für Innovationen benötigen.
Wenn Europa beim nachhaltigen Transport eine Führungsrolle einnehmen will, müssen geeignete Ladenetze in großem Umfang entstehen.
Christian LevinACEA-Vorsitzender des Nutzfahrzeugausschusses für 2025, CEO von TRATON und Scania
Wie kann Europa die Lücke in der Ladeinfrastruktur für schwere Nutzfahrzeuge schließen?
Wenn Europa beim nachhaltigen Transport eine Führungsrolle einnehmen will, müssen geeignete Ladenetze in großem Umfang entstehen. Dies erfordert koordiniertes Handeln sowie vorausschauende politische Maßnahmen.
Die Verordnung über die Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (AFIR) ist ein Anfang, aber sie legt nur Mindestanforderungen fest und geht nicht vollständig auf die spezifischen Bedürfnisse unserer Industrie ein. Die Netzkapazitäten sind ein Flaschenhals, denn die Vorlaufzeiten für den Anschluss von Standorten sind lang.
Ein schnellerer Netzausbau, gestraffte Genehmigungsverfahren sowie eine klarere Durchsetzung der AFIR-Ziele sind von entscheidender Bedeutung. Scheitern diese Vorhaben, wird der Ausbau der Ladenetze nicht mit der Einführung von vollelektrischen Fahrzeugen Schritt halten können. Die nationalen Regierungen und die Europäische Kommission müssen sich besser koordinieren und schneller handeln.
Von hoher Relevanz ist das Megawatt-Ladesystem (MCS). Es wird das Laden schwerer Nutzfahrzeuge massiv beschleunigen und muss schnellstmöglich in die bestehende Infrastruktur integriert werden. Auch Netzrestriktionen müssen vereinfacht werden. Wenn die Infrastruktur nicht robust genug ist, wird die Transformation ins Stocken geraten.
Eine Herausforderung für Unternehmen, die auf E-Fahrzeuge umstellen wollen, sind nach wie vor die Kosten. Wie kann die Politik hier aktiv werden?
Die Kostenparität mit Dieselfahrzeugen ist entscheidend. Deshalb müssen wir gleiche Wettbewerbsbedingungen für Elektro-Lkw schaffen. Ein Problem ist die EU-Richtlinie zu Gewichten und Abmessungen von Lkw. Sie wird den Realitäten des elektrischen Güterverkehrs nicht gerecht, denn Batterien sind schwer. Nach derzeitigen Vorschriften wird die Nutzlastkapazität von E-Lkw verringert. Eine Gewichtsfreigabe würde helfen, die Zeit bis zur Verbesserung der Batterietechnologie zu überbrücken.
Die Eurovignetten-Richtlinie ist ein wirksames Instrument zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, da sie emissionsfreie Fahrzeuge bis Ende 2025 von der Maut befreit. Aus diesem Grund unterstützen wir die im Aktionsplan vorgeschlagene Verlängerung nachdrücklich: Sie wird stärkere Anreize für Flottenbetreiber schaffen und damit genau den Kunden helfen, die den Wandel vorantreiben. Die Verlängerung bietet die Chance, die Dynamik aufrechtzuerhalten und diejenigen Nutzer zu belohnen, die jetzt umsteigen oder bereits umgestiegen sind.
„Elektrische Lkw müssen – technologisch wie wirtschaftlich – zur ersten Wahl für Transportunternehmen werden."
Wir brauchen auch stärkere nachfrageseitige Maßnahmen. Transportkunden, nicht nur Betreiber, sollten Anreize erhalten, sich für emissionsfreien Güterverkehr zu entscheiden. Das öffentliche Beschaffungswesen kann hier mit gutem Beispiel vorangehen, indem es dem nachhaltigen Verkehr Vorrang einräumt.
Ein harmonisierter, EU-weiter Ansatz würde Unsicherheiten beseitigen und unterstreichen, dass dem elektrischen Schwerlastverkehr die Zukunft gehört. Elektrische Lkw müssen – technologisch wie wirtschaftlich – zur ersten Wahl für Transportunternehmen werden.
Wird TRATON angesichts der regulatorischen Herausforderungen seine Nachhaltigkeitsstrategie anpassen?
Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit schließen sich nicht gegenseitig aus. Ein Europa, das im weltweiten Kampf gegen den Klimawandel führend ist, kann auch auf Wettbewerbsfähigkeit setzen. Für TRATON und seine Marken ist das Erreichen der Klimaziele ein wesentlicher Bestandteil der Strategie. Wir müssen sicherstellen, dass die europäischen Hersteller in einem zunehmend schwierigen globalen Umfeld erfolgreich sind. Die Wahl der richtigen Strategie und erfolgreiche Zusammenarbeit sind hierbei wichtiger denn je. Als Unternehmen haben wir das Thema Nachhaltigkeit immer wieder vorangetrieben, doch die politischen Rahmenbedingungen konnten oft nicht Schritt halten. Wir müssen noch enger mit den politischen Entscheidungsträgern zusammenarbeiten, und ihnen helfen, die anstehenden Herausforderungen zu verstehen. Gemeinsam müssen wir sicherzustellen, dass Regulatorien die Dekarbonisierung erleichtern und gleichzeitig Innovationen und Investitionen unterstützen. Nur so kann Europa langfristig eine Führungsrolle im Transportwesen einnehmen.