Wenn man als Europäer an amerikanische Lastwagen denkt, hat man unweigerlich Bilder von endlosen Highways, riesigen Trucks und coolen Fernfahrern im Kopf. Auch Filmklassiker wie "Convoy" oder "Auf dem Highway ist die Hölle los" spielen mit diesen Klischees. Was sagen Sie dazu?

Melissa Pavlock: Ich mag diese Stereotypen, denn Fernfahrer und ihre Trucks sind das Rückgrat der US-Logistik. Übrigens: Für mich ist "Optimus Prime" aus "Transformers" der coolste Lkw-Filmcharakter.

Chris Gutierrez: Die romantische Sicht auf den amerikanischen Lkw trägt zum positiven Image bei. Das ist aber nur ein Aspekt. Amerikanische Fernfahrer sind bestens ausgebildete, umfassend vernetzte und höchst einsatzfreudige Menschen.

Wie haben Elektrifizierung, Digitalisierung und Vernetzung das eher romantische Bild der US-Trucks verändert?

Melissa Pavlock: Die Digitalisierung und Vernetzung der US-Trucks ist in vollem Gange. Und sie kommt vor allem den Fahrern zugute. Denn wenn Transportrouten optimiert werden und mögliche technische Probleme des Lkw vorausschauend erkannt werden, dann trägt das zu einem störungsfreien Transport bei. Für Fernfahrer bedeutet das: Sie sind am Wochenende zu Hause bei Ihren Familien.

Chris Gutierrez: Ich denke, der große Wandel kommt erst noch. Wenn wir die Trucks sauberer, effizienter, smarter und sicherer machen, dann wird das auch deren Wahrnehmung verändern – aber eine gewisse Romantik darf gerne bleiben.
 

Woran arbeiten die Entwicklerteams bei Navistar aktuell?

Melissa Pavlock: Navistar ist – um ein Beispiel zu nennen – stark engagiert bei der Elektrifizierung von Schulbussen. Denn für deren Einsatzroutinen ist der Elektroantrieb ideal. Zugleich arbeiten wir daran, elektrische Lösungen für Lieferwagen und Fernverkehrs-Lastwagen voranzutreiben.

Chris Gutierrez: Wir wollen die Erwartungen und Bedürfnisse von unseren Kunden, Händlern und Fahrern so genau wie möglich verstehen und umsetzen. Bei Navistar arbeiten etwa 2000 Ingenieurinnen und Ingenieure in insgesamt drei Entwicklungszentren genau daran.
 

International, die Lkw-Marke von Navistar, hat einen automatisiert fahrenden Lkw nach Level 4 für die Mitte dieser Dekade angekündigt. Ist dieses Projekt im Zeitplan?

Melissa Pavlock: Wir peilen dieses Ziel an. Bis dahin müssen noch einige technologische Fragen geklärt werden, vor allem aber müssen auch noch einige gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden.

Welche Vorteile wird diese Technologie bringen?

Chris Gutierrez: Wir werden zuerst die Fernverkehrstrucks der LT-Serie von International mit autonomen Fahrfunktionen bestücken. Der größte Vorteil dabei ist die höhere Sicherheit. Pro Jahr sterben in den USA etwa tausend Menschen an den Folgen eines Unfalls mit einem Lkw. Und schon ein Menschenleben, das wir in Zukunft aufgrund autonomer Fahrfunktionen retten könnten, wäre die Anstrengung wert. Dazu kommt, dass die Technik den Fahrer entlasten wird. Wir erwarten, dass ein Lkw dann etwa 20 Stunden pro Tag unterwegs ist, während ein Fahrer in den USA pro Arbeitstag höchsten 14 Stunden im Dienst und maximal 11 Stunden am Lenkrad sein darf. Daraus werden sich erhebliche Kostenvorteile ergeben.
 

Vernetzte Lkw sollen sicherer, smarter, effizienter und zuverlässiger werden. Was sind die nächsten Schritte, um diese Entwicklung zu beschleunigen?

Melissa Pavlock: Wir müssen uns auch um die richtige Infrastruktur kümmern, damit vernetzte Lkw ihr Potenzial ausspielen können. Dann kann die Ausfallzeit reduziert, die Kraftstoffeffizienz verbessert und die Routenplanung optimiert werden.
 

Neue Technologien treiben den Wandel der Transportindustrie voran. Welche Herausforderungen sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden?

Chris Gutierrez: Vor allem wollen wir qualifizierte Ingenieurinnen und Ingenieure an uns binden. Und die sollen, mit Blick auf die Elektrifizierung, vor allem die Energiedichte der Batterien verbessern. Die ist entscheidend für eine möglichst große Reichweite.

Welche neuen technologischen Chancen eröffnen sich für Navistar durch die Zugehörigkeit zur TRATON GROUP?

Melissa Pavlock: Zuallererst ist da die neue Größendimension. Da sehe ich eine stärkere Modularisierung, den Austausch elektrischer Antriebskomponenten, die Kooperation bei Sicherheitssystemen und einen Transfer bei HMI-Technologien. Was Digitalcockpits oder personalisierte Innenräume anlangt, sind wir in den USA noch nicht soweit wie die europäischen Hersteller.
 

Welche spezielle technologische Expertise bringt Navistar in die TRATON GROUP ein?

Chris Gutierrez: Die spezifisch US-amerikanische Erfahrung. Dazu gehört etwa das typische Erscheinungsbild der Trucks, denn cooles Aussehen ist ein zentrales Kaufargument in den USA. Auch konstruktiv sind unsere Lkw grundsätzlich anders als die europäischen. Denn unsere Trucks dürfen auf Highways bis zu 75 Meilen schnell fahren, das entspricht 120 km/h. Und selbst bei diesem Tempo sind sie noch extrem sparsam. In der EU herrschen zwar andere Regeln, dennoch kann unser Knowhow bei Effizienz und Aerodynamik für europäische Lkw nützlich sein. Dazu kommt unsere Fokussierung auf Produktentwicklung. Kaum ein anderes Unternehmen der Branche bringt serienreife Fahrzeuge in so kurzer Zeit auf den Markt wie Navistar. Wenn wir diese verschiedenen Ansätze in Zukunft kombinieren, wird das den technologischen Vorsprung der TRATON GROUP weiter vergrößern.