Eine solche Buslinie gibt es nur einmal: Auf 80 Kilometern Länge zwischen Müstair in der Schweiz und dem italienischen Tirano werden insgesamt 3.900 Höhenmeter überwunden. Ständig geht es auf und ab, die höchste Stelle ist 2.750 Meter über dem Meer am Stilfserjoch. Die Temperaturen schwanken hier im Jahresverlauf zwischen 30 Grad unter und 30 Grad über null Grad Celsius.
Fahrzeuge müssen insgesamt 85 Steilkehren meistern, kein Gefährt von mehr als zehn Metern Länge darf deshalb auf die enge Passstraße. Mit einer Ausnahme: der Linienbus, der zweimal pro Woche auf dieser wohl schönsten Bergstrecke der Welt verkehrt. Walter Burch fährt den gelben Postbus vom Typ Scania Interlink. Er arbeitet für den Schweizer Betreiber PostAuto und freut sich jedes Mal wieder auf seine Tour.
Eigentlich wäre Burch längst in Pension. Als ihm aber vor fünf Jahren der Job auf der Stelvio-Linie angeboten wurde, griff er begeistert zu. Heute steuert er den Bus geschickt über alle Engstellen auf diesem zweithöchsten asphaltierten Gebirgspass der Alpen. Vor den vielen uneinsichtigen Kurven hupt Burch. Dann ertönt das für die Schweizer Postbusse so charakteristische Dreiton-Signal. In der Schweiz kennt jeder diesen A-Dur-Akkord aus der Oper „Wilhelm Tell“, die Tonfolge hat Kultstatus. Postbusse sind bei den Eidgenossen ein wichtiger Teil der öffentlichen Infrastruktur. PostAuto betreibt 2.300 Fahrzeuge, die jedes Jahr etwa 155 Millionen Menschen befördern. Die einzigartige Panorama-Verbindung über das Stilfserjoch wird zwischen Mai und November angeboten.
„Ich liebe die Strecke und das Fahrzeug“, sagt Burch glücklich einige hundert Meter hinter der italienischen Grenze. Hier findet sich die höchste Stelle der Passage und auch die höchstgelegene Postbus-Haltestelle. Der Fahrer legt eine halbe Stunde Pause ein und genießt das Panorama.
Sein Scania Interlink wurde speziell für diesen anspruchsvollen Einsatz im Hochgebirge entwickelt. Er misst elf Meter in der Länge, der Radstand beträgt jedoch nur fünf Meter. Das macht den Bus so wendig, wie es hier notwendig ist. Vor besonders niedrigen Tunnels kann das Fahrzeug zudem um fünf Zentimeter abgesenkt werden. Bruno Brot von PostAuto Graubünden lobt auch den wirtschaftlichen Aspekt: „Für uns waren beim Kauf mehrere Faktoren entscheidend, zum Beispiel die Anschaffungs- und Betriebskosten. Schon in der ersten Woche waren wir positiv vom niedrigen Spritverbrauch überrascht“, erzählt der Manager.
Wenn Walter Burch frühmorgens an der Benediktinerabtei St. Johannes in Müstair startet, warten schon Touristen und Radfahrer mit ihren Bikes auf ihn. Auch der eine oder andere Einheimische ist auf der Strecke unterwegs. Zunächst werden die Zweiräder auf den Heckträger verladen, dann geht es los. Auf Chauffeur und Passagiere wartet eine unvergessliche Fahrt.
Die Straße wurde vor knapp 200 Jahren vom österreichischen Kaiserreich angelegt. Sie sollte die damalige Provinz Lombardei mit dem übrigen Reich verbinden. Seitdem blieb die Streckenführung weitgehend unverändert. Die populäre britische Automagazin „Top Gear“ bezeichnet sie als „die großartigste Straße der Welt“ und drehte dort einen legendären Speed-Film.
So zieht die spektakuläre Strecke nicht nur zahllose Motorradfahrer, sondern auch Sportwagen-Enthusiasten magisch an. Sie bringen ihre Wagen auf den Haarnadel-Kurven an die Grenzen – und damit oft genug auch sich selbst. Hinter jeder Kehre tut sich eine neue Biegung auf. Das unterschätzen immer wieder Fahrer, besonders auf der steileren italienischen Seite kommt es zu Unfällen. Selbst Formel-1-Pilot Sterling Moss war in den 90er Jahren während eines Rennens von der engen Fahrbahn abgekommen.
Eigentlich sind das keine guten Voraussetzungen für eine Linienbus-Verbindung, sollte man meinen. Doch Bruno Brot von PostAuto verweist auf das besondere Fahrzeug, das hier zum Einsatz kommt. Es erfülle die speziellen Anforderungen an die anspruchsvolle Strecke auf den Punkt.
Walter Burch wird ganz sentimental, wenn er von seiner Arbeit hinter dem Lenkrad des Scania Interlink spricht. Er tätschelt die Seitenwand des gelben Busses und schwärmt: „Hier oben fühle ich mich als etwas Besonderes, wie ein echter Fahrer. In einer Stadt oder unten im Tal bist du doch lediglich einer von vielen.“ Für ihn bietet jede Tour ein neues, spannendes Erlebnis. „Ich muss mich dabei total auf das Fahrzeug verlassen können. Der Bus lässt sich perfekt steuern und verfügt über ein optimales Drehmoment. Und die Passagiere freuen sich über die bequeme und stressfreie Fahrt auf dieser fantastischen Bergroute.“
Zuverlässigkeit ist in dieser rauen Gegend besonders wichtig. Selbst im Sommer kommt es immer wieder zu heftigem Schneefall und Temperaturstürzen. „Die Strecke könnte ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen werden, so extrem ist sie“, sagt Bruno Brot.
Oben am Umbrailpass steigen die meisten Fahrgäste aus, von hier aus wandern sie oder radeln durch die spektakuläre Alpenlandschaft. In der Sonne glänzt der Ebenferner über dem Stilfserjoch. Der Gletscher reicht bis auf 3.450 Meter, hier trainieren ganzjährig die Skiprofis. Auch eine Einheimische verlässt den Bus. Von Walter Burch verabschiedet sich die Graubündnerin mit einem „Grazia fich!“. Auf Rätoromanisch bedeutet das „Danke!“.