Die Schlagzeilen vom 10. März 1981 in internationalen Zeitungen sind wenig spektakulär. US-Präsident Ronald Reagan bricht zu einem Staatsbesuch in Kanada auf. Der deutsche Formel-1-Rennfahrer Jochen Mass erklärt seinen Rücktritt. Und in Großbritannien gibt Fahrschülerin Betty Tudor nach 19 Jahren und 273 Fahrstunden bei neun Fahrlehrern den Versuch auf, den Pkw-Führerschein zu erlangen. Dazu sorgt eine Nachricht aus Brasilien für Glamour in den News: Michel Charles Eugène Marie Lamoral, Prinz von Ligne aus dem belgischen Hochadel, heiratet die brasilianische Prinzessin Eleanora von Orléans-Bragança am Zuckerhut in Rio de Janeiro.

Die wichtigste Nachricht an jenem Dienstag im März 1981 kommt auch aus Brasilien, aber ohne internationale Schlagzeilen. Zwei neu entwickelte Lkw-Modelle verlassen die Produktionshalle 4 des VW-Nutzfahrzeug-Werks in São Bernardo do Campo im brasilianischen Bundesstaat São Paulo. Das ist eine Sensation in der automobilen Welt. Die beiden in Brasilien entwickelten Modelle 11.130 und 13.130 sind die weltweit ersten schweren Lastkraftwagen, die das VW-Logo am Kühlergrill tragen. Während die Welt nach Brasilien schaut, um sich an prachtvollen Bildern einer Adelshochzeit zu erfreuen, wird im Industriegebiet von São Bernardo do Campo Mobilitäts-Geschichte geschrieben. Das erste Kapitel einer Erfolgsgeschichte, die mittlerweile 40 Jahre währt. 2021 feiert Volkswagen Caminhões e Ônibus runden Geburtstag, unter dem Dach der TRATON GROUP an der Seite der Partnermarken MAN und Scania. VWCO gehört heute zu den Marktführern für Nutzfahrzeuge in Lateinamerika. In den vergangenen 40 Jahren wurden mehr als eine Million Lkw und Busse produziert. Das war an jenem 10. März 1981 noch nicht abzusehen.

Der Start des jungen Unternehmens war seinerzeit alles andere als leicht. Roberto Cortes, seit Ende der 80er-Jahre im Unternehmen und seit 23 Jahren Präsident von VWCO, erinnert sich: „Alles begann mit nur zwei Modellen, heute bieten wir mehr als 280 Produktvarianten an. Wir hatten zu Beginn veraltete Produktionslinien, heute sind wir mit unserem eigenen Werk in Resende und einem innovativen, modularen Produktionskonzept ein Vorbild an Effektivität und Kooperation. Aus einer Handvoll Niederlassungen zu Beginn ist heute eine der größten Händlerketten Brasiliens mit mehr als hundert Standorten geworden. Wir starteten mit marginalen Marktanteilen, heute sind wir mit einem Anteil von rund 30 Prozent einer der führenden Anbieter für Nutzfahrzeuge auf dem brasilianischen Markt. Zu Beginn lag unsere Exportquote bei null, heute bedienen wir die Märkte in mehr als 30 Ländern.“

„Alles begann mit nur zwei Modellen, heute bieten wir mehr als 280 Produktvarianten an.“

Roberto Cortes, Präsident von VWCO,

Volkswagens Einstieg in den Markt mit schweren Lkw startete tatsächlich mit Second-Hand-Equipment. Das Unternehmen übernahm von 1979 bis Ende 1980 das schwächelnde Brasiliengeschäft von Chrysler, samt Produktionslinien in São Bernardo do Campo. Dass Volkswagen bis dato keine eigenen schweren Nutzfahrzeuge produziert und somit keine Erfahrungen in einem wettbewerbsstarken Marktsegment hatte sammeln können, war dennoch kein Nachteil für das Brasiliengeschäft der deutschen Marke. Weil der Mutterkonzern der jungen Brasilien-Dependance freie Hand für die Entwicklung eines neuen Produktportfolios ließ, konnten die Ingenieure genau die Lkw- und später Busmodelle konzipieren und produzieren, die der sehr differenzierte Markt in Südamerika verlangte.

Lastwagen sind vor allem in Brasilien das Haupttransportmittel für Güter, Busse das Hauptverkehrsmittel neben dem privaten Pkw. Brasilien, mit 8,5 Millionen Quadratkilometern das fünftgrößte Land der Erde, hat ein 1,5 Millionen Kilometer langes Straßennetz, von dem aber selbst heute nur rund ein Fünftel asphaltiert ist. Fast die Hälfte des Landes ist vom Amazonas-Regenwald bedeckt. Viele Regionen des heute 212 Millionen Einwohner zählenden Staates sind nur schwer zu erreichen, Straßen oftmals in schlechtem Zustand. Dennoch fahren Lkw und Busse auch in die entlegensten Gebiete, stellen die Versorgung sicher, bringen Menschen quer durchs Land. Nach Angaben des Dachverbandes des brasilianischen Transportwesens, Confederaçao Nacional do Transporte (CNT), werden jährlich 1548 Millionen Tonnen Güter auf der Straße transportiert. Auf Schiene und Wasser entfallen nur je 350 Millionen Tonnen.

Das bedeutet: Lkw müssen besonders robust sein. Sie müssen für jede denkbare Transportlösung einsetzbar und nicht zuletzt kostengünstig auch für die vielen Kleinstunternehmen sein. „Wir konnten von Anfang an genau die Produkte entwickeln, die unsere Kunden benötigten“, erklärt Ricardo Alouche, ebenfalls seit 30 Jahren im Unternehmen und heute Vice President Sales und Marketing. „Das war ein großer Vorteil gegenüber dem Wettbewerb. Dort musste man oftmals auf bestehende Produktlösungen aus großen Mutterkonzernen zurückgreifen, die eben nicht maßgeschneidert waren für die Anforderungen des Marktes. Von Volkswagen aber gab es keine schweren Lkw. Die haben dann wir entwickelt, gemäß der Wünsche unserer Kunden.“

Insbesondere mit der Eröffnung des eigenen Werks in Resende 1996 startete die brasilianische Volkswagen-Tochter durch. Die neue Produktionsanlage ist zudem das weltweit erste Fahrzeugwerk, in dem Hersteller und Zuliefererunternehmen Verantwortung und Kosten teilen. Das sogenannte Modular-Konsortium erlaubt es Volkswagen Caminhões e Ônibus, gemeinsam mit seinen Partnern eine optimale Variantenvielfalt für den bunten lateinamerikanischen und zunehmend auch afrikanischen Markt anbieten zu können. Das Unternehmen gehört zudem zu den Pionieren bei nachhaltigen Mobilitätslösungen in Südamerika. VWCO setzte in Brasilien bereits sehr früh auch auf Biodiesel und entwickelte einen Lkw mit dieselhydraulischem Hybridantrieb.

Volkswagen Caminhões e Ônibus treibt derzeit die Einführung von Elektro-Lkw in Brasilien voran. Gemeinsam mit Partnerunternehmen wurde im e-Consortium eine batterieelektrische Variante des Bestsellers Delivery entwickelt. Der Markt nimmt das neue Produkt hervorragend an: Die internationale Großbrauerei Ambev zum Beispiel unterzeichnete eine Absichtserklärung, die vorsieht, dass im Jahr 2023 mehr als 33 Prozent der Lieferflotte aus Elektro-Lkw von Volkswagen bestehen. Rund 1600 emissionsfreie Fahrzeuge sollen im Einsatz sein – das weltweit größte Projekt dieser Art.