Die Luft über dem Highway 163 flimmert. Dornige Tumbleweed-Bälle wehen über die Fahrbahn. In der Ferne stehen die roten Felsblöcke des Monument Valley majestätisch Spalier, das Asphaltband scheint sich am Horizont aufzulösen. Da setzt ein Grollen ein, wird lauter – und mit einem WOOOSH! rauscht ein Truck vorbei Richtung Südwesten. Welcome to America! Und willkommen in der Welt von Navistar. Die Lastwagen der Marke International gehören zu den stärksten, zuverlässigsten und innovativsten Trucks, die auf Nordamerikas Highways Güter transportieren und die Versorgung im weiten Land sicherstellen. Die Ursprünge von Navistar liegen jedoch an anderer Stelle – und fast zweihundert Jahre zurück. Auf einer Farm inmitten der sanften, grünen Hügel von Rockbridge County.
Nur sechs Wochen tüftelte der 22-jährige Cyrus McCormick in der Werkstatt der elterlichen Farm "Walnut Grove" in Virginia. Dann war die Getreidemähmaschine erfunden. Sein Geistesblitz: Er konstruierte den Mähbalken, der die Getreidehalme so fixierte, dass sie mit einem Schnitt der beweglichen Messer geerntet werden konnten. Cyrus muss mächtig stolz gewesen sein. Sein Vater Robert hatte zuvor 15 Jahre lang vergeblich versucht, eine von Pferden gezogene Mähmaschine zu bauen. Noch im gleichen Jahr, 1831, führte McCormick Junior seinen "Virginia Reaper" erfolgreich vor. Die Maschine ersetzte zwölf Erntearbeiter – es war die Initialzündung zur Mechanisierung der Landwirtschaft. Und es war der Grundstein der Geschichte von Navistar. Bevor allerdings die ersten Lkw vom Band laufen konnten, musste Familie McCormick noch einige Felder mehr beackern.
Die französische Akademie der Wissenschaften nahm 1851 Cyrus McCormick als Mitglied auf, denn er habe "mehr für die Landwirtschaft getan, als jeder andere". Der Erfolg des "Virginia Reapers" beruhte jedoch nicht nur auf der genialen Konstruktion, sondern auch auf einer maßgeschneiderten Vermarktung. McCormick wusste genau, welche Bedürfnisse Farmer hatten, er war schließlich selbst Farmer gewesen. Mit großem Sinn fürs Geschäft führte er 1842 erstmals eine Produktgarantie ein, bot ab 1871 als erster am Markt Ratenzahlungen an und organisierte den Vertrieb über sorgfältig ausgebildete Vertreter im ganzen Land, was in den frühen 1880er-Jahren in die erste Franchise-Verkaufsorganisation der Welt mündete.
Als McCormick 1884 starb, waren seine Erntemaschinen bereits in 82 Ländern der Welt im Einsatz. Sein ältester Sohn Cyrus Jr. übernahm die Geschäftsleitung und verschmolz die McCormick Harvesting Machine Company im Jahr 1902 unter anderem mit dem bis dahin größten Konkurrenten, der Deering Harvesting Company zum Unternehmen International Harvester. Die neue Firma entwickelte sich bis 1910 zum viertgrößten Unternehmen der USA, sie produzierte in Schweden, Deutschland, Russland und Australien. Und sie setzte immer wieder Meilensteine in der Agrartechnik. Etwa mit dem 1924 eingeführten Farmall Traktor, der erstmals so konstruiert war, dass er perfekt zwischen die Saatreihen von Kartoffeln oder RübenMais, Weizen oder Sojabohnen passte.
Die technologische Entwicklung bei International Harvester blieb jedoch nicht auf Landwirtschaftsmaschinen beschränkt. Der begnadete Ingenieur Ed Johnston entwickelte den ersten Benzinmotor (1904) für das Unternehmen und stellte sowohl das erste Automobil (1907), als auch den ersten Lkw (1909) der Firma auf die Räder. Der "Auto Wagon" genannte Kleinlaster konnte bis zu knapp 400 Kilogramm Nutzlast transportieren und war der Startpunkt für die nach wie vor existierende Lkw-Marke International Truck, unter der die Flaggschiffe der Navistar-Flotte vermarktet werden.
Auch bei den Omnibussen setzte International Harvester 1915 einen Meilenstein: mit dem ersten Schulbus des Unternehmens. Bis heute bilden die gelb lackierten Busse das logistische Fundament des US-Schulsystems. Sie gehören zu Amerika wie Hamburger, Baseball und Grand Canyon. Zwei Jahre später revolutionierten die Ingenieure von International Harvester den Lkw-Motorenbau durch die Erfindung der nassen Zylinderlaufbuchse, was die Motoreninstandsetzung erheblich vereinfachte. Erstmals wurden sie in den Motoren der sogenannten H Trucks und im 8-16 Traktor eingesetzt. Und die robusten Lkw-Modelle der im gleichen Jahr vorgestellten 54er-, 74er-, 94er- und 104er-Serie waren maßgeblich an den Bauarbeiten für das New Yorker U-Bahn-Netz beteiligt. Und für den Bau des Hoover-Staudamms ab 1931 wurde International Harvester als exklusiver Lkw-Lieferant ausgewählt.
International Harvester erarbeitete sich im Lkw-Geschäft schnell eine Führungsposition. Ab den 60er-Jahren war das Unternehmen der größte Hersteller von Frontlenker-Lastwagen in den USA. Bis Mitte der 70er-Jahre hatte International Harvester jeweils mehr als fünf Millionen Lastwagen und Traktoren produziert. Das Unternehmen beschäftige 125.000 Menschen an weltweit 47 Produktionsstandorten.
Dann jedoch endeten die Boomjahre. International Harvester rutschte in eine Krise, Umstrukturierungen wurden unumgänglich. 1982 trennte sich der Konzern von seinem Baumaschinen-Geschäft, zwei Jahre später wurde sogar die Landwirtschafts-Sparte verkauft. 1986 schließlich – mehr als eineinhalb Jahrhunderte nach der Firmengründung – erfolgte der Neustart unter dem Namen Navistar. Kerngeschäft war fortan die Entwicklung und Produktion von Lkw, Bussen und Motoren. Mit dieser Konzentration auf die noch heute wesentlichen Geschäftsfelder kehrte auch der Erfolg zurück. Navistar wuchs durch gezielte Zukäufe, etwa des Busherstellers Am Tran. Aber auch durch innovative Lastwagen, beispielsweise die ProStar-Baureihe, die bei ihrem Debüt 2007 sowohl in Aerodynamik und Energieeffizienz neue Maßstäbe setzte. Mit der vollständigen Übernahme durch die TRATON GROUP – eine strategische Partnerschaft bestand seit 2016 – erfährt die nunmehr 190 Jahre währende Geschichte von Navistar eine weitere, gewinnbringende Wendung.