Vollautomatisiertes Fahren ist längst keine Utopie mehr. Die Gesetzgebung in der Europäischen Union definiert bereits die Rahmenbedingungen für die Typgenehmigung und den Einsatz von vollautomatisierten Lkw und Bussen nach SAE Level 4.. Das bedeutet, dass schon bald fahrerloses Fahren auf bestimmten Strecken im öffentlichen Straßenverkehr erlaubt sein wird. Damit liegt Europa im Vergleich zum Rest der Welt weit vorne.
Derzeit hat jedes Land die Freiheit, Erprobungsfahrten für Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen nach SAE-Level 4 (siehe nachstehende Info) auf öffentlichen Straßen zu genehmigen gemäß des Wiener Übereinkommens und der Genfer Konvention über den Straßenverkehr (siehe nachstehende Info). Doch Güter- und Personenverkehr endet in der Realität nicht an der Landesgrenze. Daher erarbeitete die EU nun Regeln für ein harmonisiertes Typgenehmigungsverfahren, das grenzüberschreitend einheitliche Sicherheitsstandards setzen und Zulassungsbarrieren abbauen soll.
Während Gesetze und Typgenehmigungsverfahren in der Europäischen Union gerade erst abgeschlossen wurden, rollen heute schon einige autonom fahrende Fahrzeuge mit Sondergenehmigungen auf europäischen Straßen. Ein aktuelles Beispiel dafür kommt aus Schweden: Ende Mai 2022 hat Lkw-Hersteller Scania von der schwedischen Verkehrsbehörde Transportstyrelsen die Genehmigung zur Ausweitung seiner Streckentests für drei selbstfahrende Lkw erhalten. Die vollautomatisierten Lkw können nun alle Straßen auf der fast 300 Kilometer langen Strecke zwischen den Städten Södertälje und Jönköping nutzen – mit Ausnahmegenehmigung und Sicherheitsfahrer an Bord.
Deutsche Gesetzgebung erlaubt vollautomatisiertes Fahren – ohne Fahrer im öffentlichen Straßenverkehr
In Deutschland hat die nationale Gesetzgebung frühzeitig gehandelt: Die Bundesregierung hat in den Jahren 2021 und 2022 als weltweit erstes Land die gesetzlichen Rahmenbedingungen für das hochautomatisierte Fahren mit autonomen Fahrfunktionen für Pkw und Lkw geschaffen. Das Gesetz zum autonomen Fahren und die Verordnung zur Regelung des Betriebs von Kraftfahrzeugen mit automatisierter und autonomer Fahrfunktion und zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften (AFGBV), das am 28. Juli 2022 in Kraft trat, erlaubt ausdrücklich dem Personen- und Güterverkehr mit autonomen Fahrzeugen, die über vollautomatisierte Fahrfunktionen verfügen, auf fest definierten und behördlich freigegebenen Streckenabschnitten zu fahren. Die Anwesenheit eines Sicherheitsfahrers im Fahrzeug ist in Deutschland nicht mehr vorgeschrieben.
Inzwischen ist auch der letzte Baustein verabschiedet, der die technische Umsetzung für das vollautomatisierte Fahren regelt und den Regelbetrieb möglich macht. Am 20. Mai 2022 erfolgte die Zustimmung des Bundesrats zur „Autonome-Fahrzeuge-Genehmigungs-und-Betriebs-Verordnung (AFGBV)“.
„Wir als Fahrzeughersteller begrüßen die gesetzgeberischen Initiativen, um das automatisierte Fahren als technische Innovation weiter voranzutreiben“, sagt Thomas Doering, Vice President Strategy & Business Opportunities der TRATON GROUP. Internationale Nutzfahrzeughersteller haben damit erstmals eine gesetzliche Grundlage mit genau definierten Voraussetzungen und auch Grenzen, um den Forschungs- und Entwicklungsprozess für Nutzfahrzeuge mit vollautomatisierten Fahrsystemen in Deutschland zügig voranzutreiben. Der Weg zu Fahrerprobungen und Regelbetrieb im öffentlichen Straßennetz ist damit frei, und das Zieljahr 2030 für den Beginn einer ersten Kleinserienfertigung rückt in greifbare Nähe.
Europa: Gesetzgebung zum vollautomatisierten Fahren auf EU-Ebene
Auf europäischer Ebene wurde im Juli 2022 ein Rechtsrahmen für vollautomatisierte Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen durch eine Anpassung der bestehenden Typgenehmigungsverordnung fertiggestellt, die um vollautomatisierte Fahrzeuge erweitert wurde. Mit der überarbeiteten Fassung wird ein verbindlicher Rechtsrahmen geschaffen, der vollautomatisierte Fahrsysteme im Regelbetrieb einschließt.
„Die Neufassung der General Safety Regulation gibt den Nutzfahrzeug-Herstellern Planungssicherheit, die zur Entwicklung und europaweiten Zulassungsfähigkeit vollautomatisierter Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen entscheidend ist und innerhalb dieses Rahmens dennoch ein großes Maß an konstruktiver Flexibilität erlaubt“, sagt Erik Dahlberg, Director Technical Affairs bei Scania EU Affairs.
Die neue Regelung sieht für vollautomatisierte Level-4-Lkw und -Busse keinen verpflichtenden Einsatz eines Sicherheitsfahrers mehr vor. Der Einsatz vollautomatisierter Fahrzeuge wird in den EU-Ländern jedoch zunächst auf genehmigungspflichtige Fahrstrecken beschränkt sein. Der erste Schritt im vollautomatisierten Güterverkehr konzentriert sich daher auf Lösungen im Hub-to-Hub-Verkehr auf Autobahnen und den jeweiligen Zufahrtsstraßen.
Und auch Nutzfahrzeug-Hersteller TRATON sieht den künftigen Schwerpunkt von Level-4-Lkw im Güterverkehr zwischen großen, autobahnnahen Logistikzentren. Der erste vollautomatisierte Lastwagen der TRATON-Tochter MAN hat im Projekt ANITA (Autonome Innovation im Terminalablauf) im Mai 2022 seine erste Fahrt auf öffentlichen Straßen erfolgreich absolviert. „Die technologische Entwicklung der vollautomatisierten Fahrfunktionen ist so weit fortgeschritten, dass wir demnächst dem klar definierten Rechtsrahmen Folge leisten und mit dem fahrerlosen Regelbetrieb auf öffentlichen Straßen starten können“, so TRATON-Stratege Thomas Doering.
Haftung und Versicherung: Wer haftet im Schadensfall?
In Deutschland sind wichtige Haftungsfragen durch die nationale Gesetzgebung bereits weitgehend geklärt. Die Verantwortung liegt auch bei Fahrzeugen mit vollautomatisierten Fahrzeugen mit autonomen Fahrfunktionen, die ohne Fahrer im Einsatz sind, vorrangig beim Halter des Fahrzeugs. Dessen Haftpflichtversicherung kommt sowohl bei konventionellen als auch bei Fahrzeugen mit vollautomatisierten Fahrsystemen für Personen- und Sachschäden auf. Zusätzlich besteht die Pflicht zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung für die Technische Aufsicht. Kommt es zu einem Verkehrsverstoß oder einem Unfall, werden Unfallursache und Verschulden in jedem Einzelfall individuell ermittelt.
In anderen EU-Staaten wie zum Beispiel Schweden ist aktuell noch nicht gesetzlich festgelegt, wie die Haftung aussieht. Und auch die europäische Gesetzgebung macht zu Haftungsfragen in vollautonomen Fahrzeugen derzeit keine verbindlichen Aussagen. Solange ein Sicherheitsfahrer an Bord ist, ist dieser für Unfälle und Verkehrsverstöße verantwortlich, während der Hersteller für technische Fehlfunktionen und Ausfälle des Gesamtfahrzeugsystems haftbar ist.
„Die technologische Entwicklung der vollautomatisierten Fahrfunktionen ist so weit fortgeschritten, dass wir demnächst dem klar definierten Rechtsrahmen Folge leisten und mit dem fahrerlosen Regelbetrieb auf öffentlichen Straßen starten können.“
Thomas Doering, Vice President Strategy & Business Opportunities bei TRATON GROUP,
Datenschutz: Wem gehören die Daten, wer speichert sie und wer hat Zugriff?
Allerdings wird in der bevorstehenden EU-Gesetzgebung voraussichtlich der Hersteller dazu verpflichtet, Fahrzeug- und Betriebsdaten zu sammeln und an Behörden und Betreiber herauszugeben. Dafür soll die Überwachung von Fahrzeug und Daten über Monitoring-Systeme vorgeschrieben werden, der Umfang ist aber noch nicht abschließend geregelt.
In Deutschland ist der Zugriff auf die erzeugten und gesammelten Digitaldaten von Fahrzeugen mit vollautomatisierten Fahrsystemen bei der jeweiligen Technischen Aufsicht konzentriert. Im Klartext heißt das, dass die Datenhoheit beim Hersteller oder beim Betreiber liegt. Nur sie können die Daten einsehen, nutzen und – falls erforderlich – Dritten die Freigabe zur Einsicht und Nutzung erteilen. Damit ist jede Übermittlung von Daten prinzipiell nur mit Zustimmung des Herstellers oder Betreibers möglich. Das Gesetz zum Autonomen Fahren schreibt lediglich vor, dass Daten über Störungen im Betriebsablauf, Eingriffe der Technischen Aufsicht, Konfliktszenarien, nicht planbare Spurwechsel oder Ausweichmanöver gespeichert und den zuständigen Behörden oder dem Kraftfahrt-Bundesamt auf Verlangen zur Verfügung gestellt werden müssen.
Die Sachverständigenorganisation DEKRA e.V. sieht das kritisch. „Bei allen vernetzten und damit auch den vollautomatisiert fahrenden Fahrzeugen mit autonomen Fahrfunktionen muss unbedingt ein regulierter Datenzugriff für alle hoheitlichen Aufgabenbereiche wie Unfallanalytik, Fahrzeugprüfung, Verkehrspolizei und Strafverfolgung sichergestellt sein“, so Walter Niewöhner, der die Interessen des DEKRA in internationalen Gremien vertritt. Er fordert eine fälschungssichere Datenspeicherung für alle in der EU zugelassenen Fahrzeuge nach einheitlichen Standards, die in jedem Land der EU durch eine neutrale Institution als Datentreuhänder durchgeführt werden soll.
Gemeinsam mit dem europäischen Verkehrspolizeinetzwerk Roadpol und der Europäischen Vereinigung für Unfallforschung und Unfallanalyse EVU will DEKRA diese Lücke nun schließen und fordert die Aufnahme von Vorgaben zur Datennutzung im Automobilbereich in den „Data Act“-Entwurf der Europäischen Kommission. Der Data Act schreibt grundlegende Prinzipien für den Zugriff auf und die Nutzung von Daten fest, die von Produkten erzeugt und gesammelt werden.
Auch wenn also das fahrerlose Fahren auf EU-Ebene bald gesetzlich erlaubt sein wird, sind auf dem Weg bis in die alltägliche Anwendung noch einige Hürden zu nehmen wie Haftung, Datenschutz und nationale Abstimmungen zwischen den EU-Ländern. Die gemeinsame Gesetzgebung ist dabei ein wichtiger Meilenstein.
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Gegenstand aller aktuellen gesetzlichen Regelungen weltweit sind Fahrzeuge mit vollautomatisierten Fahrsystemen und autonomen Fahrfunktionen nach SAE-Level 4. Die Gesetzgeber beziehen sich dabei auf ein sechsstufiges Level-System, in dem die amerikanische Society of Automotive Engineers (SAE) die verschiedenen Ausbaustufen des automatisierten und autonomen Fahrens definiert hat. Während die SAE-Level 0 bis 3 den Stand der Technik heute gängiger Fahrzeuge ohne und mit Assistenzsystemen beschreiben, handelt es sich bei Fahrzeugen des SAE-Level 4 um vollautomatisierte Fahrsysteme mit autonomen Fahrfunktionen, die kein Eingreifen durch einen Fahrer erfordern und unter Umständen auch nicht mehr über Pedale oder ein Lenkrad verfügen. Die höchste Stufe, das SAE-Level 5, ist heute noch Zukunftsmusik und umfasst vollständig autonom fahrende Fahrzeuge ohne jegliche Anwendungsgrenzen.
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Den internationalen Rahmen für den Verkehr auf öffentlichen Straßen regelt das „Wiener Übereinkommen über den Straßenverkehr“ (Vienna Convention on Road Traffic) vom 8. November 1968, dessen letzte Änderung am 23. März 2016 in Kraft getreten ist. Dieser völkerrechtliche Vertrag verpflichtet seine Vertragsparteien dazu, den internationalen Straßenverkehr im Hinblick auf Straßenverkehrs- und Fahrzeugstandards zu harmonisieren und einen einheitlichen Rechtsrahmen für das Straßenverkehrs- und Zulassungsrecht zu schaffen. Die übergreifenden Grundsätze gelten aktuell für rund 85 Länder weltweit, darunter die Länder der Europäischen Union und Großbritannien. Nicht beigetreten sind unter anderem die USA, China, Singapur und Japan. Die aktuelle und seit 2016 geltende Fassung des Wiener Übereinkommens umfasst auch länderübergreifende Grundsätze zur Zulassung von Assistenzsystemen. Darin ist unter anderem festgelegt, dass in jedem Fahrzeug, sobald es in Bewegung ist, ein Fahrer physisch anwesend sein muss. Aufgrund der technologischen Entwicklungen hin zu vollautomatisierten Level-4-Fahrzeugen mit autonomen Fahrfunktionen für den regulären Straßeneinsatz ist eine Novelle des Wiener Übereinkommens in Vorbereitung, die voraussichtlich im Juli 2022 in Kraft treten wird. Sie soll die Umsetzung eines fahrerlosen Betriebs im Rahmen der nationalen Gesetzgebung ermöglichen.
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Die AFGBV regelt bundesländerübergreifend alle Voraussetzungen für die Zulassung und den Einsatz vollautomatisierter Fahrzeuge. Dazu gehören ein einheitliches Prüf- und Zulassungsverfahren zur Erteilung der Betriebserlaubnis, die Voraussetzungen und das Verfahren zur Genehmigung des festgelegten Betriebsbereichs, die Pflichten der am Betrieb beteiligten Personen sowie die technischen Anforderungen an Bau, Beschaffenheit und Ausrüstung des Fahrzeugs. Unter anderem muss das Fahrzeug über ein System zur Unfallvermeidung verfügen, mit dem das Fahrsystem selbstständig Situationen beurteilen, erforderliche Fahrmanöver durchführen und sich bei kritischen Situationen in einen risikominimalen Zustand versetzen kann. Zur Überwachung des fahrerlosen Fahrzeugbetriebs sind externe Aufsichts- und Kontrollzentren einzurichten. Die sogenannte Technische Aufsicht muss durch eine natürliche Person besetzt sein, die das vollautomatisierte Fahrzeug in kritischen Situationen anhalten sowie bestimmte Fahrmanöver freigeben, korrigieren oder verhindern kann. Der Hersteller muss zudem ein Sicherheitskonzept inklusive einer Datenschutz-Folgeabschätzung erstellen, das den Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung entspricht. Außerdem muss er nachweisen, dass die elektrische und elektronische Architektur des Fahrzeugs vor Angriffen gesichert ist und eine ausreichend sichere Funkverbindung besteht.