Entwicklungen des autonomen Lkw-Verkehr
Seit einigen Jahren steht die Nutzfahrzeugindustrie vor besonderen Herausforderungen, die das Potenzial haben, das bisherige Geschäftsmodell grundlegend zu verändern. Dazu gehören beispielsweise der Klimawandel und die Notwendigkeit, Emissionen zu reduzieren, aber auch Lieferengpässe, politische Konflikte und der stetig steigende Fahrermangel weltweit. Gerade bei letzterem Punkt können autonome Fahrzeuge zu neuen Rollenverteilungen und Geschäftsmodellen führen: Zukünftig kann der autonome Lkw-Verkehr enorme Chancen für alle Parteien entlang der Wertschöpfungskette von Transport und Logistik bringen. Doch um von dieser Umwälzung zu profitieren, sieht die Unternehmensberatung Berylls Handlungsbedarf, indem Lkw-Anbieter ihre Markteinführungsstrategie definieren und die Kommerzialisierung des Geschäftsmodelles sowie der technologischen Weiterentwicklung vorbereiten.
Berylls hat seit 2020 mehrere Studien zu autonom fahrenden Lkw veröffentlicht und eine Umfrage unter 50 Experten aus dem Lkw-Umfeld durchgeführt. Das Ziel war es, ein konkretes Bild der aktuellen Lage zu bekommen. An der Umfrage teilgenommen haben unter anderem die Marken MAN, Scania und die TRATON GROUP selbst. Im Mittelpunkt standen neben dem autonomen Fahren weitere Themen wie Digitalisierung, Konnektivität und Elektrifizierung. Steffen Stumpp, Head of Commercial Vehicles bei Berylls Strategy Advisors, und Matthias Kempf, Partner bei Berylls Digital Ventures, wissen, was die Branche gerade besonders umtreibt.
TRATON: Mit Ihren Studien haben Sie bereits aufgezeigt, dass sich autonome Fahrzeuge in den letzten Jahren stetig weiterentwickelt haben, der Praxiseinsatz rückt langsam in greifbare Nähe. Als Beispiel der TRATON GROUP kann unter anderem genannt werden, dass bereits in einem Umschlagterminal der Deutschen Bahn ein intelligenter MAN-Truck im Alltagsbetrieb Container vom Güterzug auf Lkw lädt. Das Automatisierungsprojekt Anita von MAN zeigte, wie die Fühler im Führerhaus Hindernisse erkennen - und mit tückischen Spiegelungen auf nassem Asphalt zurechtkommen. Welche aktuellen Trends regen aktuell besonders zur Diskussion an?
Steffen Stumpp (Berylls): Es zeichnet sich ab, dass der Einsatz des Autonomen Fahrens bei Lkw auf solchen Hub-to-Hub-Verbindungen als Geschäftsmodell am vielversprechendsten ist: Es ist technisch beherrschbar, das Umfeld ist relativ einfach, da keine Fußgänger und Ampeln berücksichtigt werden müssen, und es ist wirtschaftlich lukrativ. Wir haben in unserer Studie die Experten befragt, ob sie langfristig auch Einsätze für den regionalen und städtischen Verteilerverkehr sehen. Die Antworten zeigen, dass das Geschäftsmodell umso schwieriger umsetzbar ist, je komplexer die Verkehrssituationen sind und je umfassender die Rolle des Fahrers ist. Die Frage nach der Nutzbarkeit ist allerdings weniger eine technische als eine wirtschaftliche. Ich denke, technisch gesehen wird es eine Vollautomatisierung geben – deutlich nach 2030 -, aber irgendwann wird ein Punkt erreicht sein, wo die Grenzkosten höher sind als der Grenznutzen. Wo exakt der Sweet Spot liegt, wird die Zeit zeigen, das kann man aus heutiger Sicht schwer beurteilen. Aber sicher ist, es kommt zunächst Hub-to-Hub auf die Straßen. Wir erwarten die Umsetzung zuerst in den USA, konkret in den Sunshine-States, aufgrund besserer Witterungs- und Straßenverhältnisse. Hier gibt es bereits konkrete Pläne, wie die Anbieter die Technologie schrittweise von Südwesten nach Nordosten der USA ausrollen möchten. Aber es wird auch an konkreten Plänen in Europa gearbeitet und parallel ist man auch in China aktiv, um die Markteinführung zu planen.
TRATON: Während die Umsetzung für bestimmte Projekte in den USA bereits konkret geplant werden, sieht es dort mit einer einheitlichen Regelung zu rechtlichen Rahmenbestimmungen schwieriger aus. Im Vergleich dazu ist Europa einen Schritt weiter. Inwiefern beeinflussen diese Entwicklungen das Autonome Fahren in den verschiedenen Märkten?
Steffen Stumpp (Berylls): In den USA hat jeder Bundesstaat seine eigene Gesetzgebung und im Moment gehen Anbieter dorthin, wo die Rahmenbedingungen am günstigsten sind. Das kann für einen Alltagseinsatz aber nicht funktionieren, da der Lkw-Verkehr ja nicht an der Bundesstaatengrenze endet. Meine Erwartung ist aber, dass die Politik nicht im Wege stehen wird, wenn das autonome Fahren technisch reif ist und kommerziell kurz vor einem Durchbruch steht. Ich gehe davon aus, dass die Gesetzgebung sowohl in Europa als auch in den USA rechtzeitig Rahmenbedingungen gewährleisten wird, die den Betrieb ermöglichen. Deutschland ist diesbezüglich mit der Novelle des Straßenverkehrsgesetzes im Juli 2021 in einer Vorreiterrolle.
Matthias Kempf (Berylls): Ergänzend dazu muss gesagt werden, dass es für das Autonome Fahren ab Level 3, also das bedingt automatisierte Fahren, noch kein europaweites Zulassungsverfahren gibt, sondern diese immer nur auf ein Land bezogen sind. Die Zulassungsverfahren sind sehr komplex, denn nicht nur das Fahrzeug und das Automated Driving (AD)-System müssen zugelassen sein, sondern auch das Betriebsgebiet, die sogenannte ODD. Der Föderalismus macht die entsprechenden Freigabeverfahren durchaus kompliziert. Grundsätzlich ist der politische Wille zur Umsetzung aber klar erkennbar, denn es ist nicht nur eine Frage des Technologie-Standorts, sondern auch unseres allgemeinen Wohlstands. Viele Gemeinden und Städte können sich heute schon keinen umfassenden ÖPNV-Regelbetrieb mehr leisten, aufgrund von Fahrermangel und Budgetknappheit. Da das Mobilitätssystem ein maßgeblicher Faktor für die Wirtschaftskraft eines Standorts ist, hat die Politik aus volkswirtschaftlicher Sicht ein Interesse daran, die regulatorischen Hürden für die Markteinführung des Autonomen Fahrens, bei allen berechtigten Anforderungen an Sicherheitsaspekte, soweit es geht abzubauen.
Wahrnehmungen des autonomen Lkw in der Gesellschaft
TRATON: Nicht nur die Politik muss überzeugt werden, neue Technologien haben es zu Beginn in der Gesellschaft allgemein schwer. Wie kann das Gesellschaftsbild von autonom fahrenden Lkw verbessert werden, gerade im Vergleich zur Wahrnehmung autonom fahrender Pkw?
Steffen Stumpp (Berylls): Menschen urteilen da ein bisschen einseitig, denn wenn ein Unfall mit einem autonom fahrenden Fahrzeug passiert, wird sofort hinterfragt, ob man diese Technologie zulassen soll. Wenn im Vergleich dazu ein Fahrer einen Unfall verursacht, wird keiner den Status Quo grundsätzlich in Frage stellen. Die Anforderungen an die Technologie sind hoch und die Toleranz von Fehlern und Schäden ist relativ gering. Das ist auch ein Grund, weshalb die Entwicklung von autonom fahrenden Lkw bis zur Serienproduktion noch ein paar Jahre braucht. Die Technik funktioniert bereits heute unter Normalbedingungen, aber es gibt sehr viele Grenzfälle, sehr viele Sondersituationen, die die Entwickler noch ausschließen müssen. Deswegen brauchen sie noch viele virtuelle oder tatsächlich gefahrene Meilen und Kilometer, um dafür zu sorgen, dass in der Praxis nichts passiert. Im Zweifelsfall wird sich die Technik immer für den sicheren Zustand entscheiden. Daher werden wir bestimmt den einen oder anderen fahrerlosen Lkw am Straßenrand sehen, der sich abgestellt hat, damit er keinen Schaden verursacht. Hier muss man sich Schritt für Schritt an die Grenzen vortasten.
Matthias Kempf (Berylls): Aus den Begleitforschungen zu früheren Pilotprojekten kann man eine Menge interessanter Erkenntnisse ableiten. In der Regel sind zu Beginn einer AD-Initiative viele Bürger skeptisch, abgesehen von wenigen Tech-Enthusiasten. Mit zunehmender Dauer des Betriebs werden die Menschen neugierig und fangen ihrerseits an, den Service zu nutzen. Wenn sich keine nennenswerten Vorfälle ereignen, hat sich spätestens nach sechs Monaten bis ein Jahr das Thema Kundenakzeptanz mehr oder weniger erledigt – wir können hier ein klassisches Diffusionsmodell in Aktion erleben. Wenn der Service intuitiv und benutzerfreundlich ist, habe ich wenige Bedenken, dass die Kundenakzeptanz im Szenario flächendeckender AD-Services auf mittlere Sicht ein Hindernis darstellt.
Betriebswirtschaftliche Chancen für das Geschäftsmodell Autonomes Fahren
TRATON: Inwiefern kann die Lkw Branche denn da vom Pkw lernen?
Steffen Stumpp (Berylls): Ursprünglich haben sich Entwickler auf Pkw konzentriert. Inzwischen hat sich der Wind gedreht und mittlerweile sagen Experten, dass das Potenzial von Autonomen Fahrzeugen im Truck-Bereich kommerziell größer ist: Zum einen fahren Nutzfahrzeuge ganz einfach mehr. Pro Meile habe ich einen größeren Umsatz, aber auch höhere Kosten und damit auch ein größeres Einsparpotenzial als beim Pkw. Die Einsparungen werden in unserer Studie wie folgt prognostiziert: Pro Meile lassen sich mit einem autonom fahrenden Class 8 Schwerlastkraftwagen von 2,10 $ rund 0,95 $ oder 45% einsparen.
Insofern glaube ich, dass der Lkw die beste Applikation für das Autonome Fahren ist und sowohl betriebswirtschaftlich als auch volkswirtschaftlich der größte Mehrwert in diesem Segment entsteht. In Bezug auf die Herausforderungen, können Pkw- und Lkw-Industrie auch voneinander lernen, denn im Grunde sind die Technologien vergleichbar, nur die Dimensionen unterscheiden sich.
TRATON: Sie haben in Ihrer Studie unter anderem über die Markteinführungsstrategie geschrieben – mit Blick auf die Zukunft gerichtet: Auf was kommt es an, auf was sollten sich Marken spezialisieren, auch TRATON als Holding?
Steffen Stumpp (Beryls): Neben der technischen Umsetzung sind vor allem die Geschäftsmodelle spannend. Ich habe in unserer Studie provokativ die Frage gestellt, wer zukünftig eigentlich wen beliefert. Tech-Player und Lkw-Hersteller müssen sich zu ihren Geschäftsmodellen Gedanken machen. Sie müssen klären, wie sie dem Kunden gegenüber auftreten und wie sie die Kundenschnittstelle in der Zukunft besetzen können. Wer das Fahrzeug auf die Straße bringt, wer es liefert und wer die Schnittstelle zu den Kunden hält, bleibt eine spannende Frage, die es für eine Nutzfahrzeugholding zu beantworten gilt.
-
Dr. Matthias Kempf (1974) ist seit August 2011 Gründungspartner bei Berylls Strategy Advisors. Er begann seine Laufbahn im Jahre 2000 bei Mercer Management Consulting. Nach Promotion und weiterer Beratungstätigkeit bei Oliver Wyman war er 2008 bis 2011 im Management der Hilti Deutschland GmbH tätig. Sein Spezialgebiet bei Berylls liegt im Bereich der neuen Mobilitätsdienstleistungen und Verkehrskonzepte. Darüber hinaus ist er Experte bei der Entwicklung und Implementierung neuer digitaler Geschäftsmodelle und der Digitalisierung von Vertrieb und After Sales. Studium Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe, Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
-
Steffen Stumpp (1970) ist seit Oktober 2020 bei der Berylls Group als Leiter der Business Unit Commercial Vehicles. Im Bereich Nutzfahrzeuge hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits langjährige Branchen- und Führungserfahrung. Seine berufliche Laufbahn begann Stumpp bei einem OEM und durchlief Stationen in Forschung, Marketing, Produkt¬planung sowie After-Sales Service. Mit seinem Wechsel in die Automobil-Zulieferindustrie über¬nahm er bei einem mittelständischen Tier 1 Zulieferer die weltweite Verantwortung für Vertrieb und Marketing. Nach einer weiteren Station als Vertriebsleiter hat er sich zum Einstieg bei Berylls entschieden. Hier verantwortet er den Bereich Nutzfahrzeuge. Stumpp hat Wirtschaftsingenieurwesen am KIT in Karlsruhe sowie an der TU Berlin mit Schwerpunkt Logistik studiert und hat einen Abschluss als Diplom-Ingenieur.