Die Europäische Union will verabschieden, Deutschland hat es schon. Die Rede ist von einem Paket gesetzgeberischer Maßnahmen, die alle Aspekte des autonomen Fahrens abdecken, klare Rahmenbedingungen setzen und Rechtssicherheit für Entwickler, Hersteller und Betreiber schaffen. Die Spannbreite erstreckt sich vom Typgenehmigungsverfahren bis zum fahrerlosen Regeleinsatz auf öffentlichen Straßen für vollautomatisierte Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen gemäß SAE-Level 4.
In vielen anderen Ländern ist jedoch die Gesetzgebung, welche die Erprobung und den kommerziellen Regelbetrieb fahrerloser Fahrzeugsysteme regeln sollte, noch ein gutes Stück von der Realität entfernt. Dies zeigt sich beim Blick in Richtung USA und Asien: Während übergreifende gesetzliche Rahmenbedingungen und Typgenehmigungsverfahren bislang nicht existieren oder noch im Planungsstadium sind, befindet sich bereits eine große Zahl vollautomatisierter Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen im Erprobungseinsatz auf der Straße. Ermöglicht wird dies durch individuelle fahrzeugbezogene Ausnahme- und Sondergenehmigungen, die in jedem Land oder sogar je nach Region nach unterschiedlichen Kriterien vergeben werden.
Erprobungsfahrten mit vollautomatisierten Fahrsystemen
Straßenerprobungen mit vollautomatisierten Fahrsystemen werden seit einigen Jahren in der ganzen Welt durchgeführt unter der Schirmherrschaft des Wiener Übereinkommens und der Genfer Konvention über den Straßenverkehr. Grundvoraussetzung dafür ist eine Person, die bereit und in der Lage ist, die Kontrolle über das Erprobungsfahrzeug zu übernehmen. Diese Person kann sich im Fahrzeug befinden – oder auch nicht. Die genaue Auslegung ist Sache nationaler Gesetze – und die sehen weltweit höchst unterschiedlich aus. Während einige Länder fahrzeugbezogene Ausnahmegenehmigungen erteilen, setzen beispielsweise die USA auf das Prinzip der herstellerseitigen Selbstzertifizierung. Die EU hingegen arbeitet an Regeln für ein harmonisiertes Typgenehmigungsverfahren, das in allen Mitgliedsländern gelten, einheitliche Sicherheitsstandards setzen und Zulassungsbarrieren abbauen soll.
"Der wichtigste Punkt für uns ist die eindeutige Klarheit des rechtlichen Rahmens in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen."Olivier Fontaine, Deputy Technical Director der OICA
Beim Ausarbeiten der internationalen Gesetzgebung engagiert sich vor allem der Weltverband der Lkw-Hersteller OICA (International Organization of Motor Vehicle Manufacturers) für eine Harmonisierung der technischen Vorschriften und der Straßenverkehrsordnungen für das vollautomatisierte Fahren. „Der wichtigste Punkt für uns ist die eindeutige Klarheit des rechtlichen Rahmens in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen“, betont Olivier Fontaine, Deputy Technical Director der OICA. „In der Harmonisierung auf UN-Ebene sehen wir jedoch den Schlüssel für den sicheren Einsatz vollautomatisierter Fahrzeuge im globalen Straßenverkehr. Die weltweite Zusammenarbeit beim Ausarbeiten der Vorschriften für das automatisierte Fahren erleichtert die rechtmäßige Nutzung von automatisierten Systemen.“ Die jüngsten Änderungen des Wiener Übereinkommens erlauben laut Fontaine den Betrieb von hoch- und vollautomatisierten Fahrzeugen unter klaren Bedingungen für die Unterzeichnerstaaten, zu denen die USA, China, Japan und Singapur allerdings nicht zählen.
Vereinigte Staaten: Freie Fahrt für vollautomatisierte Fahrzeuge ohne Fahrer
Unbestritten liegen die USA auf dem vordersten Platz, wenn es um die Realisierung des vollautomatisierten Fahrens auf Level 4 der auch dort verwendeten SAE-Klassifizierung geht. „Einen bundesstaatübergreifenden Rechtsrahmen für vollautomatisierte Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen gibt es in den US-Bundesstaaten jedoch nicht“, bestätigt Srinivas Gowda, Vice President of Autonomous Driving beim US-amerikanischen Truck-Hersteller Navistar. Es gibt auch keine ernsthaften Gesetzesvorschläge, die derzeit vom US-Kongress geprüft werden. „Gesetzliche Regulierungsbestrebungen sind zwar in Vorbereitung. Bislang erfolgt die Einsatzzulassung jedoch zumeist auf Basis einer Selbstzertifizierung durch die jeweiligen Hersteller“, sagt er.
Die rechtlichen Bestimmungen für den Einsatz vollautomatisierter Fahrzeuge variieren in den einzelnen Bundesstaaten. Die liberalsten Regelungen gelten in den Staaten Arizona, Texas, Nevada und Michigan, in denen teilweise schon seit mehreren Jahren Fahrerprobungen oder sogar der Regelbetrieb ohne Sicherheitsfahrer auf öffentlichen Straßen erlaubt sind. „Die Antrags- und Genehmigungsverfahren zur Erteilung von Sondergenehmigungen für Erprobungsfahrten ohne physisch anwesenden Fahrer an Bord erfolgen in den einzelnen Bundesstaaten nach unterschiedlichen Vorgaben“, so Daniel Sullivan, Public Policy & Regulatory Manager of Autonomous Technology bei Navistar.
Bestehende Verkehrs- und Kraftfahrzeuggesetze müssen jedoch immer eingehalten, bescheinigt und ein Versicherungsnachweis vorgelegt werden. Beim vollautomatisierten fahrerlosen Betrieb haftet grundsätzlich der Halter des Fahrzeugs. In einzelnen Staaten werden Dokumentationen und Reports über die Art und den Verlauf der durchgeführten Einsätze oder Verfahren und Methoden der durchgeführten Erprobungen durch den Hersteller verlangt.
Volksrepublik China holt auf
Um den Rückstand zu den USA und Europa aufzuholen, unternimmt die chinesische Gesetzgebung in den letzten zwei Jahren große Anstrengungen, um die Kommerzialisierung autonomer Technologien zu beschleunigen. Im Sommer 2021 hat China sein Straßenverkehrssicherheitsgesetz geändert und Vorschriften für die Erprobung hoch- und vollautomatisierter Fahrzeuge in Kraft gesetzt, berichtet die chinesische Tageszeitung Global Times. Darin wurden verbindliche Normen für intelligente, vernetzte Fahrzeuge sowie das Versuchsmanagement bei Straßentests und Demonstrationen festgelegt.
Die neue Verordnung, die gemeinsam vom Ministerium für Industrie und Informationstechnologie dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit und dem Ministerium für Transport und Verkehr veröffentlicht wurde, gestattet qualifizierten Unternehmen die Erprobung vollautomatisierter Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen auf Autobahnen und städtischen Straßen. Die Auswahl und Freigabe der betreffenden öffentlichen Straßenstrecken erfolgen durch die zuständigen Behörden und lokalen Stadtverwaltungen nach ihren eigenen Vorschriften. Die Verordnung regelt auch die Haftung für Verkehrsverstöße und Unfälle: Vollautomatisierte Fahrzeuge, die mit Echtzeit-Fernüberwachungssystemen ausgestattet sind und Fahrdaten mindestens 90 Sekunden lang aufzeichnen und speichern können bevor es zu einem Unfall oder Systemausfall kommt, können sich für die Erprobungslizenzen bewerben. Laut der Nachrichtenagentur Caixin Global müssen nach heutigem Stand in den autonomen Lkw und selbstfahrenden Pkw immer menschliche Sicherheitsfahrer an Bord sein, die gemäß den geltenden Verkehrsregeln des Landes für Verkehrsverstöße verantwortlich gemacht werden können.
Bislang hat die Volksrepublik China lediglich die Erprobung und Demonstration, nicht aber den Regelbetrieb hoch- und vollautomatisierter Fahrsysteme mit autonomen Fahrfunktionen auf öffentlichen Straßen erlaubt. Im „Global Guide to Autonomous Vehicles 2022“ der Dentons Group werden insgesamt 16 Demonstrationszonen mit mehr als 3500 Kilometern Straßenlänge ausgewiesen. Demnach haben 27 chinesische Provinzen und Gemeinden Vorschriften für fahrerlose Erprobungsfahrten mit hoch- und autonomen Systemen erlassen. Der „Global Guide“ nennt als Schwerpunkte die Drehangelkreuze Shanghai und Guangzhou. Daher glauben wir, dass autonomes Fahren im innerstädtischen Frachtverkehr schneller kommerzialisiert werden kann als die Taxi-Industrie mit Robotaxis," zitierte das Robotik-Fachmedium Zhou Guang, den CEO von DeepRoute.ai. Es handele sich dabei in China um einen Markt im Wert von insgesamt 250 Milliarden USDollar, sagte Zhou.
Singapur ist schon beim regulären Betrieb ohne Fahrer
In dem Südostasiatischen Stadtstaat Singapur hingegen sind die Erprobung und ebenso der Regelbetrieb von hoch- und vollautomatisierten Fahrzeugen sowohl auf öffentlichen als auch auf nicht-öffentlichen Straßen bereits seit 2017 erlaubt. Hier wurden seither mehr als 40 fahrerlose Fahrzeuge getestet und für den Verkehr auf den Straßen Singapurs zugelassen, so Aaron Raj von Techwire Asia. Hierfür bedarf es laut der internationalen Beratergesellschaft CMS einer Genehmigung der Land Transport Authority of Singapore (LTA), die den Versuch gegebenenfalls auf ein bestimmtes geografisches Gebiet einschränkt. Zudem ist der Abschluss einer Haftpflichtversicherung vorgeschrieben.
Der Halter oder Betreiber muss der LTA jeden Vorfall melden, bei dem es zu einer Fehlfunktion des vollautomatisierten Fahrsystems oder zu einem Unfall mit Todesfolge, Körperverletzung oder Sachschaden kommt, der durch die Benutzung des vollautomatisierten Fahrzeugs verursacht wird.
Japan bringt gesetzliche Rahmenbedingungen auf den Weg
Mit Riesenschritten wird auch Japan vermutlich bald zu einem weiteren Hotspot für autonomes Fahren. Am 19. April 2022 hat die japanische Regierung einen neuen Gesetzesentwurf zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes verabschiedet, der die gesetzlichen Rahmenbedingungen für das vollautomatisierte Fahren einschließlich unbemannter selbstfahrender Fahrzeuge der Stufe 4 festlegt. Diese Änderung wird nach Genehmigung das autonome Fahren auf ausgewählten öffentlichen Straßen in ausgewählten Regionen ermöglichen. Im Fokus stehen selbstfahrende Minibusse, die zur Beförderung älterer Menschen in dünn besiedelten ländlichen Gebieten eingesetzt werden sollen. Die Umsetzung der neuen Regeln wird laut Berichten von IoT World Today und The Japan Times innerhalb eines Jahres – also um die Jahresmitte 2023 – erfolgen.
Obwohl die Gesetzgebung auf zentralstaatlicher Ebene durchgesetzt wird, werden die Genehmigungsverfahren zur Erteilung einer Betriebsgenehmigung für vollautomatisierte Fahrzeuge von den Kommissionen für öffentliche Sicherheit in den jeweiligen lokalen Präfekturen durchgeführt. Das Gesetz verlangt beim Betrieb vollautomatisierter Fahrzeuge mit autonomen Fahrfunktionen eine Fernüberwachung durch den Betreiber. Sind vollautomatisierte Fahrzeuge in Verkehrsverstöße verwickelt oder wird ein Unfall nicht gemeldet, haftet der Betreiber und wird entsprechend der Schwere des Verstoßes bestraft.
„Auf EU-Ebene wird der Beginn einer limitierten Kleinserienproduktion autonome Trucks und deren Verfügbarkeit für ausgewählte Kunden eventuell schon ab 2025 und spätestens bis 2030 realisierbar sein.“
Erik Dahlberg, Director Technical Affairs bei Scania EU Affairs,
Internationaler Vergleich der Gesetzgebungen
Während also der reale Einsatz vollautomatisierter Level-4-Fahrsysteme außerhalb Europas schnell voranschreitet, fehlt jedoch häufig eine gesetzliche Grundlage mit verbindlichen Rahmenbedingungen, die individuelle Ausnahmegenehmigungen oder Sonderregelungen übergreifend ersetzen und einen regulären, fahrerlosen Betrieb zulassen.
„Die Unsicherheit, ob sie ein Level-4-Fahrzeug bauen und auf den von ihnen benötigten Strecken mit und ohne Fahrer auch einsetzen dürfen, stellt eine riesige Hürde sowohl für die Hersteller als auch die Betreiber vollautomatisierter Fahrzeuge dar“, erklärt Erik Dahlberg, Director Technical Affairs bei Scania EU Affairs. „Diese Hindernisse müssen mittel- oder langfristig auf den internationalen Märkten beseitigt werden, um den kommerziellen Regelbetrieb weltweit überhaupt erst möglich zu machen.“
Da die EU im Hinblick auf die Gesetzgebung und verbindliche Regelungen für den Betrieb autonomer Fahrzeuge schon wesentlich weiter ist, könnte dies den europäischen Herstellern eine globale Spitzenposition bei der Kommerzialisierung von Level-4-Fahrzeugen sichern. Dahlberg ist zuversichtlich: „Auf EU-Ebene wird der Beginn einer limitierten Kleinserienproduktion autonome Trucks und deren Verfügbarkeit für ausgewählte Kunden eventuell schon ab 2025 und spätestens bis 2030 realisierbar sein.“